Inspiration
Hans Zippert

„Oh, da fällt mir gerade etwas ein“ (letzte Worte eines Architekten)

Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm kennt Neugier als „ 1. die gier etwas neues, eine neuerung zu machen“ und „2. Die gier etwas neues kennen zu lernen, eine neuigkeit zu erfahren, meist nur um des neuen willen.“ Sobald etwas also nicht mehr neu ist, interessiert es nicht mehr, diesen Effekt nutzen sehr erfolgreich Produzenten von Elektrogeräten, wobei die Arbeiter in asiatischen Fabriken und afrikanischen Minen, die prickelnde Gier des Konsumenten, eine Neuigkeit zu erfahren, nicht richtig teilen können. Wie sagt es die IHK-Frankfurt so treffend: „Des einen Neugier ist des anderen monotoner Arbeitsalltag“.
Den Architekten treibt die Neugier regelmäßig zu Errichtung von Neubauten, während er selber, so will es das Klischee, lieber den geräumigen Altbau bewohnt. Vielleicht bedingt aber auch erst das Wohnen im Altbau die Erschaffung des Neubaus, da muss wohl die Wohnsoziologie mal ran. Der Brockhaus definiert Neugier als „Bedürfnis nach Neuem, wobei orientierendes, ebenso wie gerichtetes und zielstrebiges Vorgehen eine Rolle spielen. Neugier ist ein bei Menschen und Tieren zu beobachtendes Verhalten, das wahrscheinlich angeboren ist“. Amseln wissen, dank ihrer Neugier inzwischen, dass es sich lohnt, in der Nähe eines grabenden Menschen zu bleiben, denn er wird mit Sicherheit einige Regenwürmer ans Tageslicht befördern, die der Vogel auch unter größter Anstrengung nicht selber aus dem Erdreich herausbekommen hätte. Ich beobachte immer wieder Amseln, die aufgeregt in einem Beet hin und herlaufen, um meine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sie rufen mir zu: grab doch mal hier! Und natürlich sind sie neugierig, ob ich darauf reinfalle aber ich lasse mich von Vögeln nicht herumkommandieren.
Spätestens da hatte der Dodo begriffen, dass ihn die Neugier nicht weiterbrachte, sondern eher Vorsicht angeraten gewesen wäre.
Wikipedia, die Online-Enzyklopädie weiß: „Bei vielen Tieren erlischt das Neugier-Verhalten mit der Geschlechtsreife. Beim Menschen dagegen bleibt die Neugier lebenslang bestehen.“ Der Grönlandhai erreicht seine Geschlechtsreife erst mit ca. 150 Jahren, in der Zwischenzeit treibt ihn die Neugier durch die Weltmeere, ob es dem Menschen wohl vorher gelingt, ihn auszurotten. Dem Dodo wurde seine auch nach der Geschlechtsreife vorhandene Neugier im 17. Jahrhundert zum Verhängnis. Man kann ein nachgebautes Exemplar diese merkwürdigen Vogels im Senckenberg-Museum besichtigen, einem der ganz wenigen Gebäude Frankfurts, das, nebenbei bemerkt, nicht vom Architekturbüro Schneider-Schumacher geplant worden ist. Der Dodo lebte auf Mauritius, bis ungefähr im Jahre 1500 eine vollkommen menschenleere Insel. Er hatte keine natürlichen Feinde, deshalb ließ er seine Flügel verkümmern. Als dann portugiesische Seefahrer auf Mauritius landeten, wusste der Dodo nicht, dass das jetzt natürliche Feinde waren. Er hatte keine Fluchtdistanz, sondern war neugierig und näherte sich unbefangen den Besuchern. Es gab damals keinen Nabu und auch keinen WWF. Der Dodo war erledigt, denn die Portugiesen hatten Hunger und nach ihnen kamen die Holländer, die noch hungriger waren. Der Dodo wirkte fett, in manchen Quellen finden sich sehr uncharmante Beschreibungen seiner Körperfülle, jedenfalls war er zu schwer, um abzuheben und schnell laufen konnte er daher auch nicht. Die Holländer versprachen sich einiges vom Dodobraten, aber der Dodo war eigentlich nicht zum Verzehr geeignet. Sie beschimpften ihn als Ekelvogel und verfolgten ihn umso wütender, zur Strafe, weil er nicht gut schmeckte (s.a. Thomas Pynchon „Die Enden der Parabel“). Spätestens da hatte der Dodo begriffen, dass ihn die Neugier nicht weiterbrachte, sondern eher Vorsicht angeraten gewesen wäre. Aber es gelang ihm nicht mehr rechtzeitig, sich Flügel wachsen lassen und so wurde der letzte lebende Dodo 1690 gesichtet. Von einem Engländer.
Bei einigen Bauwerken der Gegenwart fragt man sich als Laie schon, wie damit eigentlich Partner angelockt werden sollen.
Eine Präparatorin des Senckenberg-Museums hat ihn nun meisterhaft rekonstruiert und sicherheitshalber in einen Glaskasten gestellt, falls Holländer vorbeikommen sollten. Damit ist der Dodo so etwas wie das ornithologische Äquivalent zur neuen Frankfurter Altstadt. Die existiert auch schon lange nicht mehr aber wir können sie uns trotzdem ansehen. Der Dodo wirkt erschreckend lebendig, man kann dem Blick aus seinen glasigen Augen nur schwer standhalten. Der Vogel hat den Kopf leicht nach rechts geneigt und schaut uns traurig, vielleicht auch nur melancholisch an. Die Präparatorin hat ihr ganzes Können in diesen Blick, in diese Geste gelegt. So schaut uns die neue Altstadt leider nicht an, sie hat im Gegenteil etwas freches, unverschämtes im Blick. Der Dodo war übrigens kein großer Baumeister, er schob ein paar Zweige und Blätter zu einem nestartigen Gebilde auf dem Boden zusammen und das war‘s. Für seine Zwecke reichte das völlig aus, denn es kam hundert von Jahren niemand vorbei, der sein Werk begutachtete und kritisierte, niemand sagte: „Wer soll denn da drin wohnen, was haben sich die Architekten dabei gedacht?“. Zum Glück versagen nicht alle Vögel so derartig. Das Männchen, des in Australien beheimateten Laubenvogels konstruiert eine aufwendig gestaltete Liebeslaube, steckt eine kleine Allee aus Zweigen ab und legt den Gang mit Steinen, Muscheln und Knochen aus. Es hortet ein Sammelsurium an Objekten, die es geschickt vor seiner Laube drapiert, dabei achtet der Vogel darauf, dass alles die gleiche Farbe hat und hilft zur Not mit Beerensaft nach. Taucht ein Weibchen auf, beginnt er mit einem eindrucksvollen Balztanz. Das Weibchen wählt den Partner nur nach der Qualität von Laube und Balztanz aus. Nach vollzogener Paarung verlässt das Weibchen die Laube und baut sich ihr eigenes, eher schlichtes, Nest. Das Männchen hat mit der Aufzucht der Jungen nicht das Geringste zu tun, es benötigt seine ganze Energie für den Hausbau. Sehr geschickte Männchen locken bis zu dreißig Weibchen an, andere gehen leer aus. Die Qualität des Bauwerks ist entscheidend für den Erfolg, deshalb beschäftigen sich Architekturstudenten ein Semester lang nur mit der Arbeit der Laubenvögel. Doch nutzt das irgendetwas? Bei einigen Bauwerken der Gegenwart fragt man sich als Laie schon, wie damit eigentlich Partner angelockt werden sollen. Allerdings kriegt man auch nur sehr selten den Balztanz eines Architekten mit, vielleicht vollbringt er da Höchstleistungen, so wie John Travolta in Pulp Fiction.
Denn ER hielt sich für den besten Architekten und duldete keine Konkurrenz.
Nicht nur Laubenvögel, auch Termiten sind großartige Baumeister, deren Behausungen bis zu sieben Meter hoch werden können und über raffinierte Entlüftungs- und Kühlsysteme verfügen. An diesem Vorbild hat sich das Architektenbüro bei den Planungen für das FAIR-Beschleunigungszentrum in Darmstadt orientiert. Große Bedeutung kommt dort dem Kühlaggregat zu, es ist das Herzstück des Bauwerks, das im weitesten Sinne wohl ein Teilchenbeschleuniger werden soll. Der eben bereits erwähnte Laie, die älteren Leser werden sich erinnern, fragt sich natürlich, wozu man Teilchen denn beschleunigen soll. Ich glaube, es ist sehr wichtig, das Backwaren möglichst schnell vom Hersteller zum Verbraucher kommen und dafür muss man sie beschleunigen, vor allem die Hefeteilchen, die schmecken ja frisch am besten, wobei es kaum noch Bäckereien gint, die die Kunst der Hefeteilchenherstellung beherrschen. Doch wenn die Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs wären, würden sie immer jünger und frischer aber man muss aufpassen, dass sie nicht zu schnell werden, sonst zerlegen sie sich wieder in einzelne Zutaten. Die Lösung für dieses Problem findet sich wahrscheinlich auch im Termitenbau. Was treibt eigentlich Menschen an, sich der Natur entgegenzustemmen und sie mit unnatürlichen Konstruktionen zu provozieren? Warum baut der Mensch? Die Natur hat dem Steinzeitbewohner freigibig höhlenartige Behausungen zur Verfügung gestellt, die er immerhin eigenhändig mit Malereien ausschmücken konnte. Das zeigt ganz nebenbei, dass die Innenarchitektur vor der Architektur kam. Die ersten hausartigen Wohnmöglichkeiten wurden zunächst noch planlos an geeigneten Orten aufgestellt. Irgendwann, ganz genau lässt sich das nicht datieren, kam dann jemand auf die Idee, dass man zunächst mal einen Plan machen müsse, um ein Gebäude zu errichten. Das geschah in der Nähe von Babylon und nach diesem Plan wurde dann ein eigenwilliger Turm gebaut, der anscheinend so vortrefflich zu gelingen drohte, dass Gott für einen Baustopp sorgte. Denn ER hielt sich für den besten Architekten und duldete keine Konkurrenz. Gott sorgte dafür, dass die Menschen plötzlich in verschiedenen Sprachen redeten und sich nicht mehr verstanden. Das macht auch heute noch das Bauen von Türmen so schwierig. Und es wird nicht einfacher dadurch, dass Architekten beteiligt sind.
Man weiß leider, dass viele der bedeutendsten Bauwerke der Welt eigentlich der Begriffsstutzigkeit der ausführenden Arbeiter zu verdanken sind.
Will ein Bildhauer einen Löwen erschaffen, dann muss er einfach nur alles wegschlagen, was nicht nach Löwe aussieht. Das wissen wir von Rodin. Doch damit ist es bei der Gebäudekonstruktion keineswegs getan. Der Architekt kann nicht einfach alles wegschlagen lassen, was nicht nach Hochhaus oder Doppelhaushälfte mit Einliegerwohnung aussieht, sondern er muss alles komplett neu erschaffen. Komplizierte Elemente wie Wintergarten, Alkoven, Gaube, Windfang oder Penthauswohnung mit Spreeblick müssen genau geplant werden. Außerdem besteht ein Gebäude heutzutage aus einer Mixtur verschiedener Materialien. Meistens Glas, Beton und Stahl. Manchmal auch Beton, Stahl und Glas, seltener Lehm, Glas und Stroh. Und hier kommt natürlich wieder die Neugierde ins Spiel, sie hat die Architekten seit Babel immer angetrieben und treibt sie auch heute an. Neugierde darauf, ob das wohl alles so stehen bleibt, was sie da auf's Papier gezeichnet haben, ob das auch alles so hält, was sie entworfen haben. Haben sie wirklich keine, der zurzeit 326997 geltenden Bauvorschriften übersehen? Wird der Auftraggeber zahlen? Werden sich die Handwerker an die Vorgaben halten oder wird es zu radikalen, unerwarteten Neuinterpretationen des Bauplans kommen? Man weiß leider, dass viele der bedeutendsten Bauwerke der Welt eigentlich der Begriffsstutzigkeit, bzw babylonischen Sprachverwirrung der ausführenden Arbeiter zu verdanken sind. Kaum jemand ahnt, dass der Eiffelturm ursprünglich komplett mit Holz verschalt werden sollte.
Und es mag unglaublich klingen aber auch der Hauptstadtflughafen wurde von einem Architektenbüro geplant. Es ist nicht ganz klar, ob ob bei der Umsetzung Fehler gemacht wurden oder ob das Büro den Flughafen von Anfang an als Parkplatz für unverkäufliche Volkswagen geplant hatte, um auf die Vergänglichkeit des Daseins und die Sinnlosigkeit des Fliegens hinzuweisen. Man wäre aber neugierig, zu erfahren, wie das alles gedacht war. Der Architekt geht mit seiner Arbeit ein extrem hohes Risiko ein, verglichen mit dem Schriftsteller. Ein misslungenes Buch hat zwar einige Bäume das Leben gekostet aber sehr schnell wird sich wenigstens niemand mehr daran erinnern. Das gilt übrigens genauso für das gelungene Buch. Ein schlechter Film, ein langweiliges Hörspiel, ein wirrer Essay zum Thema Neugierde sind bald vergessen aber die Fehler des Architekten stehen für immer oder jedenfalls eine kleine Ewigkeit lang im öffentlichen Raum und natürlich auch im öffentlichen Bewusstsein. Sie klagen an, sie mahnen, selbst wenn sie gar nicht als Mahnmal gedacht waren. Der Architekt kann seinen Arbeitsweg natürlich so legen, dass er nicht ständig an dem Gebäude vorbeigehen muss, wenn er allerdings Hochhäuser gebaut hat, dann wird es schwierig, dann muss er sich eine Brille anfertigen lassen, die höhere Gebäude unsichtbar macht. Man kann selbstverständlich nicht immer dem Architekten die Schuld geben. Bei Stuttgart 21 waren auch viele Architekten beteiligt, auch sie hat zunächst die Neugier in das Projekt getrieben und die Behauptung der Bahn, wenn man lange genug graben würde, dann müsste man eigentlich einen unterirdischen Bahnhof finden. Bis jetzt hat man noch keinen entdeckt und das kann man wirklich nicht der fehlenden Neugier der Architekten anlasten. Statt kleinliche Bedenken zu äußern sollten wir uns lieber fragen: wäre die Welt tatsächlich besser ohne Architekten? Ist eine Welt ohne Architekten überhaupt denkbar? Warum sieht es denn auf dem Mond oder dem Mars so öde aus? Weil es dort keine Architekten gibt. Die Erde ist der einzige Planet im Sonnensystem, der von Architekten mitgestaltet wurde. Natürlich sind die Dolomiten und der Grand Canyon und vor allem die Niagarafälle auch ganz ordentlich geraten aber sie entsprechen nicht mehr den aktuellen Lärmschutzregelungen. Und hätte der Dodo sein Nest von Architekten planen lassen, dann könnte er heute noch leben und würde vielleicht sogar in der neuen Frankfurter Altstadt nisten. Und falls Sie neugierig sein sollten, ob dieser Text jemals ein Ende hat, dann kann ich Sie beruhigen, denn der Architekt hat genau an dieser Stelle eine Wortschwallsperre eingeplant....
Statt kleinliche Bedenken zu äußern sollten wir uns lieber fragen: wäre die Welt tatsächlich besser ohne Architekten?